Der Reichtum Bachscher Klavierwerke

 

(Walter Blankenheim, aus dem Programm des Bach-Festivals, 1997, Saarland/Deutschland)

Der Reichtum Bachscher Klavierwerke ist noch immer nicht ausgeschöpft und dies hat Gründe, die tief verwurzelt sind mit der Charakteristik unseres Konzertlebens. Hierzu einige Gedanken:

Der Interpret befindet sich in einem ihm durchaus bewussten Zwiespalt:
Er soll die Musik zum Besten vermitteln – und obendrein, was ihm sicher noch wichtiger ist, sein artistisches Können und sich selbst darstellen. Das Publikum, dieser Gesetzmäßigkeit folgend und gleichsam Richter, fördert durch „kritisches Zuhören“ diesen Prozeß, der bei den Ausführenden zum Prinzip der Konkurrenz führt. Mit anderen Worten: Blick und Ohr des Zuhörers (oft in dieser Reihenfolge) sind wesentlich auf die Person des Spielers und dessen Leistungspotential gerichtet und dieses steht somit zentral im Mittelpunkt des Konzertgeschehens.

Musik wird gleichsam zum Medium, durch welches sich die Person darstellt, statt dass sich die Musik selbst darstellt. Dies gilt von Haydn bis Strawinskij, sozusagen ausnahmslos, wobei die im Konzert „abgestrahlte Persönlichkeit“ des Interpreten zum eigentlichen, mehr oder weniger nachhaltigen Erlebnis wird.

Die Interpretation von Werken Bachs folgt ganz offensichtlich anderen Gesetzen, weil ihr das Spezifikum „Artistik“ abgeht. Der Urgrund Bachscher Komposition scheint die genannten Umstände nicht zu dulden: Der Interpret steht hier – nur und nur – im Dienste des Werkes und sein sonst legitimer Wunsch nach „Selbst-Darstellung“ kann in dieser Musik eigentlich nicht stattfinden, es sei denn, er spielt den Komponisten „falsch“.

Die Bach-Interpretation und deren Aufnahme durch den Zuhörer erfordern somit veränderte Positionen auf beiden Seiten: Der Interpret muss „verstehen“, was er spielt, d. h. er muss den fast völlig neutralen Text erst für sich „bearbeiten“, um ihn sinnvoll spielen zu können. Dieses Verstehen der strukturellen Vorgänge und seine Einfühlung für die musikalisch-inhaltlichen Erlebniswerte und ihre „Energetik“ muss er dem Zuhörer glaubhaft vermitteln. Dieser kann das Werk aber nur dann richtig erfahren, wenn er durch veräußerte Interventionen des Spielers nicht gestört wird.

Der Zuhörer muss direkt konfrontiert sein mit dem Werk, ohne Behinderung durch artistische Neben-effekte, die auf die spielende Person aufmerksam machen. Er ist somit aufgefordert, Musik absolut aufzunehmen – ein gewiss hoher Anspruch!

Bach war ein Mensch aus Fleisch und Blut, im Laufe seines beruflichen Lebens konfrontiert mit den Erfordernissen des Adels und der Kirche, Erfordernisse, die ihm nicht immer bequem waren – dabei Oberhaupt einer Multifamilie.

Die Menge seiner Kompositionen übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Es ist anzunehmen, dass die Niederschrift seiner Kompositionen in gleicher Schnelligkeit erfolgte wie seine Ideen sprudelten – ein Vergleich mit dem Genie Mozarts liegt nahe, beide jedoch im Gegensatz zu Beethoven, der ein Suchender und Ringender der musikalischen Materie war und Zeit benötigte.

Von J. S. Bach darf man sagen, dass er „gesandt“ ist für alle, die Musik hören können und wollen. Für ihn, Bach, war seine Stellung im Protestantismus Luther’scher Prägung zwar vorgegeben, aber nicht richtungsweisend: seine Musik wird in der ganzen Welt gehört, wenn auch zuweilen mit einer Art „Respekt“, die bis zur Distanz führt, aber an der universalen Größe J. S. Bachs zweifelt wohl niemand.

Er ist der Komponist mit der weitesten Zukunft. Die Interpretation seiner Musik ist zu verstehen als “ belebte Struktur“, wobei der individuellen Temperamentslage sicher Raum gegeben ist, ganz persönliche Akzente zu setzen, die da heißen mögen:


Energie und „Relaxing“
Struktur und Gefühl
Historischer Rückblick
Ornamentik
Brillanz und Musizierfreude
Poesie und Klang.

Walter Blankenheim